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Echsenalarm im English Theatre Hamburg

Das English Theatre in Hamburg hat in dieser Spielzeit ein wunderbares Drei-Personen-Musical auf den Spielplan gesetzt, das Off-Broadway und auch beim Edinburgh Fringe Festival 2022 schon große Erfolge feiern konnte. Justin Huertas hat dieses Indie-Rock-Musical 2015 in Seattle uraufgeführt. Damals und in vidlen Folgeproduktionen übernahm er die Rolle von Trevor, dem Lizard Boy. Was dieses Stück – abgesehen vom außergewöhnlichen Inhalt – so besonders macht, ist dass die drei Darsteller auch alle ein oder mehr Instrumente spielen und sich auf der Bühne live begleiten.

Paul Glaser hat das Stück über Trevor, der an einer unheilbaren Hautveränderung leidet, die ihn für andere wie eine Echse, einen Lizard, aussehen lässt, mit sehr viel Gespür für die emotionale Achterbahnfahrt inszeniert:

Trevor verlässt seine eigenen vier Wände nur einmal im Jahr. Alles andere regelt er online. Er hat sich eine sichere Traumwelt erschaffen, in der er mit seinen Zeichnungen redet und sich in Chats mit Grindr-Bekanntschaften flüchtet. Cary, seine neueste Grindr-Bekanntschaft, scheint sehr nett zu sein, und da das alljährliche Monsterfest – der einzige Tag im Jahr, an dem Trevor freiwillig die Wohnung verlässt und von den Menschen nicht als Außenseiter wahrgenommen wird, stattfindet, beschließt er, sich mit ihm zu treffen. Cary ist jedoch sehr zielstrebig, zu zielstrebig für Trevor, und als er sich auch noch über seine grün-schuppige Haut lustig macht, wird es Trevor zu viel. Mit einem selbst komponierten Song kann Cary ihn zum Bleiben bewegen, doch das nächste Ungemach droht, als Trevor auf dem Cover einer Zeitschrift das „Dream Girl“ wiedererkennt, von der er kürzlich sehr eindrücklich geträumt hat, was ihn komplett aus der Bahn wirft.

Trevor flüchtet in eine Bar, in der Siren gerade ihren „Terrible Ride“ aufführt. Er erkennt in der Künstlerin sein „Dream Girl“ und folgt ihr backstage. Ein Gespräch entwickelt sich, Siren strahlt eine sehr besondere, fast schon gefährliche Energie aus. Ihr Name – Siren – kommt – wie sich im Laufe des Abends noich herausstellen wird – nicht von ungefähr.

Auch Cary und Trevor kommen sich näher und reden viel. Cary, der grad erst in die Gegend gezogen ist, lernt von Trevor, dass das „Monsterfest“ eine Feier zum Sieg über den Drachen ist, der die Stadt vor 20 Jahren terrorisiert hat. Trevor erzählt ihm, dass er und fünf andere Kinder bei der Enthauptung des Drachens mit dessen Blut bespritzt wurden, wodurch sich die Schuppen auf seiner Haut entwickelt haben.

Als Siren und Trevor sich unterhalten, stellt sich heraus, dass auch sie eines der sechs Kinder ist, die damals in den Drachenmord verwickelt waren. Alle betroffenen Kinder haben unterschiedliche Superkräfte entwickelt. Siren ist überzeugt, dass die Drachen dieses Jahr zurückkehren werden, und bittet Trevor um Hilfe. Der möchte davon jedoch nichts wissen und geht, um Cary zu suchen. Siren ist aber so besessen von ihrem Plan, dass sie versucht, ihn mit ihrem Sirenengesang zurückzuhalten. Genauso wie die anderen vier Kinder, droht sie auch ihn zu töten, wenn er sie nicht im Kampf gegen die Drachen unterstützt. Mit letzter Kraft kann Trevor sich Sirens Macht entziehen und flieht.

Er findet Cary, entschuldigt sich aufrichtig dafür, dass er ihn einfach so hat stehen lassen. Auf einem Spaziergang im Park wird ihre Annäherung jäh beendet, als Trevor spürt, dass sich Cary durch einen Dorn im Rücken schwer verletzt hat. Erneut kommt es zu einem Missverständnis (Cary wird schwindelig wegen des Blutes , aber Trevor denkt, er wende sich aus Abscheu vor seinem Aussehen von ihm ab) und die beiden gehen gertrennte Wege. Siren hat dies beobachtet und stellt Cary nach.

Trevor badet in Selbstmitleid, fragt sich, ob er wirklich die Chance auf ein Leben mit jemandem wegwerfen soll, der ihn so akzeptiert wie er ist. Als er per Zufall feststellt, dass er telekinetische Kräfte hat und sich noch einmal seiner Besonderheit bewusstb wird, beschließt er, endlich zu sich selbst zu stehen. Als Cary ihn per SMS bittet, wieder zurück in den Park zu kommen, merkt er schnell, dass es Siren war, die ihn dorthin gelotst hat. Er kann mit ihr auf Astraleben kommunizieren und entlarvt sie. Es kommt zu einem Kampf währenddessen sich Siren in Cary verwandelt, um Trevor zu überrumpeln. Wenn er ihr nicht von allein hilft, muss sie in töten, um seine Kräfte zu bekommen. So hat sie es mit den anderen vier Kindern auch gemacht. Trevor versucht, sie mit ihren eigenen Waffen – dem Sirenengesang – zu schlagen. Doch er wird ohnmächtig. Cary versucht zu verhindern, dass Siren ihn ersticht, doch sie schleudert ihn in eine Ecke.

Plötzlich erstarkt Trevor und ihm wachsen Flügel. Es gelingt ihm, Siren auszuschalten. Und auch Cary ist gerettet, da er ein wenig von Trevors Blut abbekommen hat und sich so selbst heilen konnte.

Das Monsterfest ist vorbei, die Sonne geht auf. Doch in der Ferne hört man das Grollen der Drachen, die tatsächlich zurückkehren. Gemeinsam ziehen die drei Freunde – Trevor, Cary und Siren – in den Kampf!

Das klingt alles sehr surreal, oder?

Doch tatsächlich spielt die eigentlich recht vielschichtige Handlung hier eine untergeordnete Rolle. Viel interessanter ist die Entwicklung der Charaktere, ihre jeweilige Geschichte und wie sie miteinander umgehen.

In Hamburg stehen Peter Tabornal, Jacob Bedford und Sophie Earl auf der Bühne und bilden ein beeindruckendes Trio. Sophie Earl wirkt lasziv und gefährlich. Ihre zauberhaft klassische und dennoch melancholische Stimmfarbe und ihr lasterhaft-berechnendes Spiel runden den Charakter der Siren perfekt ab. Zudem beherrscht sie mit Klavier, Cello und Geige auch noch drei Instrumente. Chapeau!

Jacob Bedford wirkt zunächst unscheinbar und etwas unbedarft: Doch tatsächlich ist es ja Cary, der in Trevor den Willen zu Kämpfen weckt und sein Vertrauen in die Menschen stärkt. Bedford vermag es, dieses Vertrauen und den Glauben an das Gute über die Rampe zu bringen. Er begleitet die Truppe super auf der Gitarre und hat ganz klar viele Lacher auf seiner Seite.

Als Lizard Boy Trevor kann man in Hamburg Peter Tabornal erleben. Die Verzweiflung, mit einem weithin sichtbaren Makel aufgewachsen zu sein, nimmt man ihm ab. Man versteht, warum ihm seine Zeichnungen näher sind als die Menschen außerhalb seiner Wohnung. Auch das Hin- und Hergerissensein zwischen Ablehnung und Neugierde beim „Dream Girl“ Siren kann Tabornal glaubwürdig umsetzen. Er ist der nette Junge von nebenan, der kein Wässerchen trüben kann und der dank seiner sich unerwartet zeigenden Macht, sehr viel Selbstvertrauen gewinnt und fortan erhobenen Haupts durch die Stadt geht. Tabornal kann seine Energie sehr gut dosieren und erschreckt mit unerwarteten Ausbrüchen genauso wie mit zarten, verletzlichen Momenten.

Musikalisch stellt das Stück die ein oder andere Herausforderung an die Besetzung. Nicht jeder kann alles können, aber Jon Mortimer holt alles aus den Künstlern heraus. Dennoch fehlt es Sophie Earl ein wenig an „Dreck“ in der Stimme beim Kampf gegen Trevor („The Fight“) und Peter Tabornal kämpft mit den Hip-Hop-Elementen im Titelsong „Lizard Boy“. Bei „Take me to bed“, dem Kampf von Siren und Trevor um Carys Leben) spielt Huertas ganz wunderbar mit verschiedensten Intensitäten, die die drei Darsteller gekonnt intonieren.

Auch das Bühnenbild (Mathias Wardeck) ist zweckdienlich und clever. Insbesondere aber die Videoprojektionen (ebenfalls Paul Glaser) und das Licht Design (Heiko Böttner) sorgen für einige Wow-Momente: Nicht nur Trevors Drachenflügel sind absolut beeindruckend!

„Lizard Boy“ ist ein wunderbarer Beleg dafür, dass Shows nicht 10 Millionen Euro kosten müssen, um zu überzeugen. Mit gekonnter Regie und Darstellern, die ihre Charaktere verstehen und „leben“, kann man ein Publikum richtig gut abholen und bekommt den verdienten Stehenden Applaus.

Michaela Flint

Theater: English Theatre, Hamburg
Premiere: 25. April 2024
Darsteller:
Peter Tabornal, Jacob Bedford, Sophie Earl

Buch & Musik / Regie: Justin Huertas / Paul Glaser
Fotos: Stefan Kock