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Eine gelungene Produktion über das echte Leben

Richard Attenboroughs Film „A Chorus Line“ aus dem Jahr 1985 gehört im Musicalfach zur Pflichtlektüre. Jede:r kennt den Film, viele habe schon Inszenierungen dieses so dankbaren Stoffs auf einer Bühne gesehen oder darin mitgewirkt. „One“, „At the ballett“, „What I did for love“ und natürlich „Tits and ass“ sind weltbekannte Musicalhits, die man unweigerlich mitsummt.

Nach neueren Stücken im letzten Jahr („Natürlich Blond“, „Sister Act“) hat sich die Stage School in Hamburg in diesem Sommer vorgenommen, einen Klassiker zu entstauben und ihn einer neuen Generation schmackhaft zu machen.

„Das Musical entführt das Publikum in die aufregende Welt einer Audition, bei der die hoffnungsvollen Bewerber:innen bis an ihre emotionalen Grenzen gehen müssen. Acht begehrte Ensemble-Rollen für ein neues Broadway-Stück stehen zur Vergabe und der charismatische Choreograf Zach sucht nicht nur nach herausragenden Tänzer:innen, sondern fordert die Talente auch dazu auf, ihre innersten Gefühle preiszugeben. Das Drama entfaltet sich, als die Protagonist:innen nach und nach ihre Lebensgeschichten offenbaren – mal trotzig, mal Humor als schützenden Schleier nutzend, und dann wieder in schonungsloser Ehrlichkeit, was die Emotionen umso berührender macht.“ so die Beschreibung der Stage School auf ihrer Website.

Man fühlt die Anspannung an diesem Premienabend. Fast 30 Absolvent:innen fiebern ihrem Auftritt in einem der bekanntesten Musicals überhaupt entgegen. Da werden unweigerlich Vergleiche gezogen, das Urteil des Publikums wird nur umso härter. Davon sind natürlich auch die Gäste nicht frei. Denn unterstützt wird der Stage School Nachwuchs in von gleich elf erfahrenen Musical-Darsteller:innen. Jede:r bekommt seinen Augenblick im Scheinwerferlicht, seine Textzeile, die im Ohr bleibt, seine Schrittfolge, die Staunen lässt. Denn was hier als allererstes auffällt, ist, dass „A Chorus Line“ kaum in einer authentischeren Umgebung umgesetzt werden könnte.

Die Bühne (Felix Wienbürger) wandelt sich vom kargen Probenraum zur schillernden Broadway-Bühne, die Kostüme vom sportlichen Trainingsdress zur gold-glitzernden Gala-Uniform mit Zylinder. Das Licht Design (Till Nau) tut ein übrigens, um mit (vermeintlich) wenig Aufwand eine neue Welt zu erschaffen. Auch die einzelnen Charaktere machen eine teilweise erstaunliche Wandlung durch, treibt Zach (Benjamin Plautz) sie doch während der Audition gnadenlos zu Höchstleistungen an. Plautz ist zielstrebig und klar, hat aber zugleich eine sehr warme, gefühlvolle Ausstrahlung, was für diese Rolle einfach ideal ist.

In den Reihen derer, die sich für eine der acht zu besetzenden Rollen bewerben, finden sich Mike (Sanny J. Roumimper), Bobby (Maximilian Vogel), Sheila (Judith Urban), Maggie (Leonie Hammel), Al (Torben Bach) nebst Ehefrau Kristin (Chiara Goetschi), Mark (Vincent Treftz), Paul (Lukas Poischbeg), Diana Morales (Anna Talimaa), Val (Elisabeth Bengs), Judy (Rike Wischhöfer), Connie (Abby Cheng) und natürlich Cassie (Natascha Cecilia Hill), die eine gemeinsame Vergangenheit mit Zach hat.

Schon nach der Eröffnungsnummer trennt sich die sprichwörtliche Spreu vom Weizen und man erkennt sofort, wessen Stärken im Tanz liegen und wessen eher im Gesang oder Schauspiel. Das erste Statement setzt rollenkonform Sheila, die sofort klar macht, wie der Hase zu laufen hat. Judith Urban hat eine raumgreifende Präsenz, eine tolle Mimik, doch leider passt ihre Stimmfarbe nicht so recht zu „Im Ballettsaal“. Leonie Hammel hingegen verleiht Maggie etwas verletzliches, ihr schönes Timbre sorgt für eine herzerwärmende Ausstrahlung der Bewerberin. Al und Kristin bestechen durch ihre Ehrlichkeit und Natürlichkeit. Torben Bach und Chiara Goetschl bringen ihre Alter Egos – so unterschiedlich die beiden auch sind – glaubwürdig auf die Bühne. Anna Talimaa fehlt es als Morales anfänglich („Gar nichts“) ein wenig an Stimmvolumen, wobei sich dies im Laufe der Show bessert. „Was mein Herz mir sagt“ wirkte deutlich klangvoller und selbstbewusster als man nach ihrem ersten Song hätte vermuten können.

Auch Kevin Gordon Valentine wirkt als Greg zunächst total unscheinbar, hat aber mit „Das Leben fängt an“ einen richtig schönen Moment. Dass Elisabeth Bengs als Val die kritischsten Blicke über sich ergehen lassen muss, ist klar. Repräsentiert sie doch das kurvenlose Mädchen vom Lande („Tanz: zehn, Typ: drei“). Audrey Landers hat mit ihrer Vorlage im Film die Latte sehr sehr hoch gelegt. Soviel Sex Appeal muss eine Nachwuchsdarstellerin erst einmal aufbieten. Bengs bemüht sich, aber sie bleibt weitgehend arrogant und unnahbar und setzt ihre Weiblichkeit nicht sehr gekonnt ein.

Kurz vor der Pause setzt Lukas Poischbeg als Paul noch ein Highlight: sein Lächeln ist so gewinnend und sein Tanz so auf den Punkt, dass man es fast bedauert, dass in diesem eigentlich pausenlosen Stück eine Unterbrechung folgt. Hier möchte ich aber eine Lanze für das Publikum brechen: Es wurden zehn Minuten Bio-Pause gewährt, nach zehn Minuten ging es auch wirklich weiter – und es waren alle im Saal!

„Musik und einen Spiegel“ ist Cassies großer Auftritt: Natascha Cecilia Hill singt sehr gefühlvoll und zeigt wahnsinnig ausdrucksstarke Posen. Die Sequenz ist wunderbar inszeniert und sprüht vor Emotionen. Auch der sehr intensive Dialog von Zach und Cassie zeigt Till Naus Gespür für die Gefühlswelten seiner Protagonisten. Gänsehaut pur!

Nachdem die Gruppe die Verletzung von Paul (Poischbeg spielt diese Szene herzzerreißend) verdaut hat, sorgt Abby Cheng als Conny nochmal für viele Lacher.

Viele Tränen fließen – nicht nur im Publikum – bei „Was mein Herz mir sagt“: Die Bewerber:innen sind am Ende ihrer Kräfte und Cassie und Diana träumen von anderen Zeiten. Schauspielerisch ein wirkliches Highlight, wenn auch von der Handlung her eigentlich unendlich traurig. Am Ende des Songs sind wirklich alle auf der Bühne sehr ergriffen und brauchen einige Sekunden, um sich zu sammeln. Insbesondere Natascha Cecilia Hill sieht man die Intensität dieser Szene noch Minuten später an.

Die aufgestauten Gefühle – sowohl im Rahmen der Handlung als auch durch die Premiere an sich – brechen sich bei „Eins“ Bahn. Innerhalb kürzester Zeit wird die Bühne in ein schillerndes Gewand gehüllt und die Darsteller:innen tauschen ihre Sport-Outfits in strahlende Kleider und Anzüge. Die Choreographie dieser Szene ist wunderschön und setzt einen leuchtenden Schlusspunkt.

Till Nau und dem Team des First Stage Theaters ist es gelungen, einem Musical-Welthit neues Leben einzuhauchen. Kurzweilig, mit guten Akzenten und Möglichkeiten für die Nachwuchs-Darsteller sich zu präsentieren – ganz so wie es in „A Chorus Line“ sein muss. Robin Kulisch hat die bald 40 Jahre Übersetzung von Michael Kunze modernisiert und Referenzen zum Zeitgeschehen eingebaut. Das klingt nicht nur gut, sondern ließ sich ganz offenbar von den Künstlern auch ohne Holpern intonieren.

Zu Recht lassen sich die Protagonisten an diesem Abend lange beklatschen. Man vermag sich kaum vorzustellen, wie anstrengend es inbesondere für die Studierenden sein muss, neben dem „Prüfungsalltag“ – immerhin haben sie ihr Studium erst im Mai erfolgreich abgeschlossen – auch noch das große Abschlussprojekt „A Chorus Line“ einzustudieren.

Michaela Flint

Theater: Fist Stage Theater, Hamburg
Premiere: 10. Juni 2024
Darsteller:
Absolvent:innen der Stage School Of Music, Dance and Drama, Benjamin Plautz, Natascha Cecilia Hill, Sanny J. Roumimper, Lukas Poischbeg, Abby Cheng, Reginald Holden Jennings, Maximilian Vogel, Leonhard Lechner, Judith Urban, Vincent Treftz, Kevin Gordon Valentine

Regie & Choreographie: Till Nau
Fotos: Dennis Mundkowski